Im Herzen der Westukraine: Kleine Rundtour in Galizien (Halytsch)

Wie gestern berichtet, waren wir in Halytsch eingetroffen und hatten uns gewundert, daß so gar nichts los ist. Ein paar hundert Meter hinter dem Ortsausgang dann unser wunderbarer Stellplatz an der Kolyba „Tschumazky Schljach“, den wir zum Preis eines Abendessens im Restaurant bekommen. Heute morgen klarer Himmel und ein verpennter Patensohn, wir rumpeln lautstark herum und räumen das Frühstück raus, bauen die Möbel auf und kochen Kaffee. Als wir dann gemütlich sitzen, heißt es plötzlich aus dem Hochdach „warum habt Ihr mich nicht geweckt?“

Wir hatten uns aus der mageren Touristen-„Enzyklopädie“ eine kleine Tour zusammengestellt, auch die Wirtin empfahl uns einiges. Ganz in der Nähe, keine 100 Meter entfernt, befindet sich der Eingang zum Halytsch-Nationalpark, ein relativ junger (um nicht wieder „fuschneu“ zu schreiben) Naturpark von rund 14.000 Hektar, der ein kleines Museum zur Flora und Fauna der Region und ein Wildtier-Rehabilitationszentrum beherbergt. Die Mitarbeiter sind hochengagiert und freuen sich über jeden Besucher, den sie individuell herumführen. Das Museum ist innen wie außen liebevoll ausgestattet, spannender allerdings sind die Außenanlagen, wo man die Pflegetiere besichtigen kann, darunter Füchse, ein Marderhund, ein mit der Flasche aufgezogenes Rehkitz, dessen Mutter von Wilderern erschossen wurde, einige Greifvögel, die u.a. Begegnungen mit Stromleitungen hatten, aus dem Nest geworfene Störche und vieles mehr. Wir fühlten uns ein wenig wie bei Daktari mit ukrainischen Rangern.

Bambi-Feeling
Bambi-Feeling.

Das gibt Mecker: Eine Ladung Wurstwaren auf der Straße verteilt
Das gibt Mecker: Eine Ladung Wurstwaren auf der Straße verteilt

Zurück zum Stellplatz und mit dem Womo dann etwas durch die Umgebung. Erstes Ziel ist das Karmeliterkloster in Bilschiwzy etwas nördlich von Halytsch. Ein Riesenkasten in einem kleinen Dorf, in dem einem die Enten und Gänse über die Straße laufen. Dort gibt es eine polnisch-ukrainische Restaurierungskooperation, und es sieht so aus, als ob man den ganzen Komplex in einem Jahr nicht wiedererkennen wird. Innen ist alles schon renoviert, Reste einiger alter Fresken sind freigelegt und erhalten. Die Arbeiter kümmern sich nicht um uns, wir klettern fröhlich auf der Empore herum. In dem Dorf gibt es außerdem mehrere Mineralwasserquellen; an einer bedienen wir uns mit unserem Trinkwasserkanister. Ganz leicht eisenhaltig, aber lecker zu trinken und fürs Kaffee- und Teekochen bestimmt geeignet.

Karmeliterkloster und Kirche in Bilschiwzy
Karmeliterkloster und Kirche in Bilschiwzy
Fresken im Karmeliterkloster Bilschiwzy
Fresken im Karmeliterkloster Bilschiwzy
Der weite Blick übers Land begleitet uns den ganzen Tag, auch hier von der äußeren Kirchenempore
Der weite Blick übers Land begleitet uns den ganzen Tag, auch hier von der äußeren Kirchenempore
Frisches Trinkwasser nachfüllen, direkt aus der Quelle
Frisches Trinkwasser nachfüllen, direkt aus der Quelle

Es ist schon nach Mittag, als wir unseren nächsten Stopp ganz in der Nähe einlegen: ich habe eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert in unserem Führer entdeckt und erwarte ein kleines hutzeliges Dorfkirchlein. Weit gefehlt! Der Vater Danylo Halytschs hat hier die großartige romanische Kirche St. Panteleimon hinterlassen, die als einzige dieser Art in der Ukraine erhaltengeblieben ist. Schon das Äußere begeistert uns, denn es sieht so aus, als ob hier wirklich gute Arbeit bei der Erhaltung und Restaurierung geleistet wurde. Als Besonderheit sieht man zahlreiche Inschriften („Graffiti“) aus alten Zeiten, teils vermutlich Steinmetzzeichen, teils Symbole der verschiedenen Konfessionen, die die Kirche erlebt hat. Sogar die Türken haben ihre Inschriften hinterlassen, teilweise noch nicht entziffert. Einschußlöcher aus dem Ersten Weltkrieg im Hauptportal. Dazu durften wir eine fast einstündige, leidenschaftliche Führung mit einer jungen Dame vom Historischen Nationalpark „Altes Galizien“ erleben. Wir teilen unsere Empörung über „kaputtrenovierte“ Kulturbauten, wie man sie oft findet, und freuten uns an der meisterhaft ausgeführten Restaurierung dieser Kirche (dessen alte Steine jeden Versuch, etwas zu verspachteln oder „auszubessern“ abstoßen – der Putz hält einfach nicht) und fachsimpelten darüber, was denn nun „authentisch“ und damit erhaltenswert ist, wenn man über Restaurierung nachdenkt (die Kölner romanischen Kirchen und ihren Wiederaufbau nach dem Krieg zum Vergleich herangezogen). Großartig. Ich liebe es, wenn aus den Augen der Menschen ihre Passion sprüht.

Romanische Kirche St. Panteleimon in Schewtschenkowe
Romanische Kirche St. Panteleimon in Schewtschenkowe
Romanisches Portal St. Panteleimon
Romanisches Portal St. Panteleimon
Eins der häufigsten Graffitis, zu dem es zig verschiedene Deutungsversuche gibt. Das Symbol dient auch als Logo des Nationalparks
Eins der häufigsten Graffitis, zu dem es zig verschiedene Deutungsversuche gibt. Das Symbol dient auch als Logo des Nationalparks
Erstaunlicher Fotoblick unseres Patensohns in der Kirche St. Pantaleimon
Erstaunlicher Fotoblick unseres Patensohns in der Kirche St. Panteleimon

Späte Mittagspause hinter dem Dorf. Wir fahren einen Feldweg heraus und halten auf einer Wiese. Vorher hatten wir eine Frau im letzten Haus noch nach dem Weg gefragt, und sie kam uns prompt hinterher und fragte, ob sie uns einen Kaffee kochen soll. Wir lehnten höflich ab und bauten unsere Mittagstafel auf. Die Anhöhe war wunderbar, ein Blick rundum übers weite galizische Land, Felder, Wiesen, „unsere Kirche“ am Horizont. Auf halbem Weg zum Horizont schicken die Schornsteine des alten Heizkraftwerks eine lange schwarzen Rauchfahne über die Ebene, und sie sind fast von jedem Punkt aus sichtbar. Wenn man sich die kulturelle Bedeutung dieses Stückchens Erde für das ukrainische Selbstbewußtsein vor Augen führt, bin ich angesichts dieser Dreckschleuder anno 1969 in der Landschaft geneigt, antisowjetische Verschwörungstheorien zu entwickeln. Später lese ich in der ukrainischen Wikipedia, daß es sogar schlimmer ist, als es aussieht: Burschtyn war 2009 der drittverschmutzteste Ort der Ukraine, und die Liste der Emissionen ist sehr lang.

Aber das Kraftwerk ist ein Stück weg, und neben der Kraft, die dieser Boden ausstrahlt, gibt es eine weitere angenehme Eigenschaft hier: Wir haben im Vergleich zu unserem Stellplatz herausragende Internetverbindung, und ich kann die Bilder des gestrigen Tages in einem Rutsch hochladen.

Mittagspause im Grünen mit gutem UMTS-Empfang
Nerd-Mittagspause im Grünen
Heuschober
Mein Lieblingsmotiv seit Jahren

Einen erstaunlich gut befahrbaren Feldweg entlang erreichen wir wieder das Tal und ziehen weiter zum Zentrum des historischen Halytsch, das sich im Dorf Krylos befindet. Es ist schon gegen 17 Uhr, aber das Museum hat noch geöffnet (10 Hrywnja für Erwachsene) und zeigt die Geschichte der Region von der steinzeitlichen Besiedlung bis in die Zeiten des galizischen Fürstentums. Leider nur einsprachig und es wird viel vorausgesetzt – man ist hier offenbar nur auf einheimische Besucher eingerichtet, ein kleiner historischer Überblick hätte schon geholfen, bevor man sich die einzelnen Scherben ansieht. Rundum jedoch die alten Verteidigungswälle des galizischen Fürstentums, Streuobstwiesen, eine große Kirche, Überreste der Festung und ein alter Grabhügel. Und wieder der Blick über das Land, man kann verstehen, warum sich die Fürsten genau hier niedergelassen haben. Unten am Fluß, im heutigen Halytsch, gab es übrigens immer schon eher das Handelszentrum, und auch heute – wir erinnern uns: keine Touristinformation – dominieren Baustoffhandlungen eindeutig über Gastronomie und Kultureinrichtungen.

Ohne Worte
Ohne Worte
Auf dem alten galizischen Fürstenhügel
Auf dem alten galizischen Fürstenhügel

Wieder mal völlig erschlagen und mit sage und schreibe 47 Kilometern Tagesfahrleistung und 484 Fotos auf den Chips (Roman hat die Wunder der Schärfentiefe bei offener Blende entdeckt) erreichen wir unsere Kolyba und speisen heute sogar noch besser als gestern abend. Den Staub des Tages beseitigt die Womo-Dusche, die 12-Volt-Versorgung und das Gas laufen auf Hochtouren, das Internet läßt gelegentlich mal mit sich reden. Morgen geht es Richtung Iwano-Frankiwsk.

P.S: Wir brauchen uns übrigens nicht über Romans Kontrollanrufe von zuhause lustig zu machen, unsere Mütter telefonieren in Deutschland anscheinend miteinander und tauschen sich über unser Wohlergehen aus. Ob man 17 oder 47 ist, macht manchmal keinen großen Unterschied …

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert