Nieselregen. Wir entscheiden, eine zweite Nacht in Görlitz zu bleiben und uns heute in aller Ruhe die Teile der Stadt anzusehen, die nicht zwingend einen blauen Himmel erfordern. Ein Fußmarsch vom Rosenhof in die Altstadt, am „Männertag“, wie man hier zum Vatertag sagt. Entgegen kommen uns schwankende Jungmänner, teils in Schottenröcken, teils in Shorts, mit Musikboxen auf Bollerwagen und quer über die Fahrbahnen Fußball spielend, dabei gelegentlich auf der Fresse landend.
Schon gestern abend waren wir kurz mit der Straßenbahn in der historischen Altstadt, die wirklich unfaßbar vollständig und unzerstört, und dazu in weiten Teilen bereits denkmalgerecht saniert ist. Görlitz ist übrigens die Stadt, in der es den anonymen Spender gibt, der einmal pro Jahr rund 500.000 Euro für die Erhaltung der Innenstadt raushaut (nicht daß das nur annähernd reichen würde, aber eine Menge Bauten haben davon profitiert). Trotz regnerischen Wetters und grauem Himmel wirkt die Stadt wie irreal. In Deutschland ist diese Vollständigkeit von historischer Bausubstanz über viele Epochen hinweg wohl auch tatsächlich einmalig – es wurde zwar in der DDR sehr vernachlässigt, andererseits aber eben auch nicht abgerissen oder sonstwie baulich verschandelt. Ein Traum für alle Denkmalschützer und Restauratoren.
Man weiß überhaupt nicht, wo man hinschauen soll. Nur kein richtiges Fotowetter, also kaufen wir uns ein Kombiticket zum Schnäppchenpreis von 7,50 (+ Fotoerlaubnis 5 Euro) fürs Kulturhistorische Museum, für das man in die Kaisertrutz (=Stadtmuseum) sowie das Barockhaus und theoretisch auch den Reichenbacher Turm besichtigen/besteigen kann. Den Turm sparen wir uns mangels Aussicht. Das historische Museum ist erst ein paar Jahre alt und sehr modern aufgezogen, mit allen interaktiven Elementen, die ein Besucher heute so erwartet kann. Von der Urgeschichte übers Biedermeier bis hin zur friedlichen Revolution 1989 geht die Dauerausstellung auf drei Etagen. Besonders eindrucksvoll der Film über den Aufstand von 1953, der in Görlitz wohl viele Tausende von Unterstützern hatte, von denen einige sehr hart bestraft wurden. Am Schluß hätte ich mir gerne etwas Ausblick in die Gegenwart der Stadt gewünscht, die Ausstellung endet im Prinzip 1989 mit den Montagsdemos und dem Ende der DDR. Vielleicht kommt das ja noch irgendwann.
Als wir rauskamen, nieselte es immer noch, next Stop Dreifaltigkeitskirche am Obermarkt, eine alte Klosterkirche mit frühesten Teilen aus dem 13. Jahrhundert. Auch hier Fotoerlaubnis kaufen, aber kein Eintrittsgeld. Erneut überrascht uns der Prunk, und wir lernen, daß es sogenannten „evangelischen Barock“ gibt. Wo soll auch sonst der riesige Barockaltar herkommen in einer rein evangelischen Gegend nach der Reformation? Einige Ausstattungsstücke, etwa eine Kreuzigungsgruppe und das Chorgestühl, wurden im Krieg in die falsche Himmelsrichtung evakuiert, man findet sie heute zum Teil in polnischen Museen und Klöstern. Dieses Faktum begegnet uns noch an anderer Stelle in Görlitz, ich würde mir gerne mal die spiegelbildlichen Beschriftungen der Objekte im Warschauer Nationalmuseum ansehen. Die Kirche ist überwältigend, wenn sie sich auch architektonisch nicht gleich erschließt. Marienaltar, Schmerzensmann, wieder diese Holzbalkone, wie wir sie schon in Kamenz gesehen haben. Großartig.
Im Café Flair verpeisen wir Erdbeerkuchen und eine Windbeutel de luxe mit Himbeeren, Eis, Sahne und Vanillesoße.
Weiter Richtung Neiße stolpern wir auch endlich über das Barockhaus, für das unser Kombiticket noch gilt, und wo uns Spannendes erwartet. Neben allerlei Alltagskultur des gehobenen Görlitzer Bürgers im Barock landen in den Räumen der hiesigen Gesellschaft der Wissenschaften. Von Wunderkammer bis hin zu wissenschaftlichen Geräten („mit dieser Scheibe kann man Elektrizität, also Funken, erzeugen.“), Sammlungsobjekten und einem Zimmer für Freimauer-Initiationsriten ist alles dabei. Der Höhepunkt für mich natürlich die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, ein Augenschmaus. Man hat hier übrigens seinerzeit den Stuck von der Decke abgeschlagen, damit kein Deko-Schnickschnack die Vermittlung des Wissens stört. Und das im Barockhaus!
Nach einem kurzen Sprung über die Neiße nach Polen ist als nächstes die Peter- und Paul-Kirche an der Reihe, die markanteste Landmarke der Stadt, gleich oberhalb der neuen Neißebrücke. Hier fällt vor allem die riesige „Sonnenorgel“ ins Auge, und eine Reihe von sehr groß dimensionierten Epitaphen. Gut gefallen hat mir die Figur des Patrons Petrus aus dem 16. Jahrhundert, die eigentlich draußen an die Fassade gehört, dort steht heute eine Kopie. Er wirkt so klein und demütig, und trägt so schwer an seinem riesigen Schlüssel. Auch hier rundherum wieder prachtvoller evangelischer Barock, wo das Auge hinsieht. Mein Bild des Protestantismus kriegt langsam extreme Risse …
So langsam schmerzen uns die Füße vom Kopfsteinpflaster, und wir flüchten vor unseren hungrigen Mägen in das Lokal „Nachtschmied“ am Obermarkt, wo wir deftigste schlesische Speisen auf der Karte finden. Für Vegetarier etwas herausfordernd, aber ich bin satt geworden und Ray hat seine Fleischration für die Woche.
Die Straßenbahn bringt uns zurück zum Rosenhof, unserem Stellplatz für zwei Nächte, wo es inzwischen recht voll ist. Wo Promobil hier den Platz für 70 Mobile sieht, ist uns zwar nicht ganz klar, aber die Anlage ist schon spannend, hier gibt es einen Indoor-Spielplatz, Sportanlagen von Squasch, Tennis, Bowling etc., ein Restaurant und einen Reiterhof. Zur Dusche und WC-Entsorgung geht es durch die Badminton-Halle. 15 Euro inkl. Brötchen und Strom. Trotz des akustischen Overkills in der Indoor-Spielanlage ist es hier hinten sehr ruhig und man hat einen netten Blick in die Landschaft und auf die Stadt. Wenn es denn mal eine klare Sicht gäbe …