Heute morgen sieht es beinahe nach einem Durchbruch beim blauen Himmel aus, und wir ziehen zeitig los Richtung Fernsehturm, „dem höchsten Gebäude in Tschechien, und dem zweithäßlichsten“. In der Tat wirkt der Turm wie ein UFO, das in dem Viertel voller bürgerlicher Wohnhäuser, den Resten eines jüdischen Friedhofs und einem Minigolfplatz gelandet ist.
Leider hatte der April sich das mit dem blauen Himmel noch einmal überlegt, und wir müssen uns mit Grau in Grau zufriedengeben. Trotzdem nehmen wir den Lift auf die Aussichtsplattform. 80er Jahre hin oder her, hier herrscht cooles Design vom Allerfeinsten. Die drei Plattformen bilden eine Lounge, die für Partys, Hochzeiten und andere Events genutzt werden kann, und eins tiefer gibt es ein Hotel – mit genau einem Zimmer mit Panoramablick über die Stadt. Außen am Turm klettern komische nackte Babys rauf und runter – Aliens? Nein, nur Kunst. Die Prager haben es drauf, den Dingen frisches Leben einzuhauchen. Wünscht man sich manchmal auch für unsere Städte.
Schon oben zeichnete sich keine Wetterverbesserung ab, und der kurze Gang über den anliegenden jüdischen Friedhof endet in einem heftigen Schneetreiben, das uns ins nächste Café treibt, wo ich eine der hausgemachten Limonaden genieße. So wird das nix mit Kleinseite heute! Unser Plan erfährt also eine Änderung – wir machen im Nationalmuseum weiter. Als der Schnee von oben etwas weniger wird, machen wir uns auf in Richtung dieser unaussprechlichen Metrostation. Gegen das kleine Hüngerchen probieren wir mal zur Abwechlsung das moderne „Street Food“ aus – der kleine, aber feine Markt trotzt dem fiesen Wetter und verkauft frische, handgeformte Burger, leckere Quiches, allerlei böhmisches Gebäck und – Knedliky! Die süßen Hefeknödel nehmen wir uns fürs Abendessen mit, jetzt und hier muß es für Ray der Burger, für mich die Lauchquiche sein. Eigentlich essen wir ja nicht so gerne im Schneetreiben auf der Straße, aber das hat einen gewissen Charme.
Also Nationalmuseum. Laut Wikipedia-Artikel „vergane Glorie“, also eine naturhistorische Ausstellung, die seit den 60ern nicht mehr entstaubt worden ist. Das klingt spannend… Leider leider ist das alte Gebäude dann fünf Jahre lang wegen Renovierung geschlossen, und wir besuchen zwei Ausstellungen im „neuen“ Gebäude aus der Zeit des Realsozialismus. Themenreihe Tod … nun gut. Die Ausstellung im Erdgeschoss beschäftigt sich mit Tod in allen Facetten – vom Tod als Beute im Nahrungskreislauf über Mumifizierung bis hin zu Hinrichtungs- und Suizidarten und die moderne Hospizbewegung in Tschechien. Kreativ aufbereitet, vielseitig, spannend.
Im zweiten Stock dann „Smrtelné slasti“ – „tödliche Vergnügen“, mit dringender Warnung an Minderjährige, die man dort lieber draußen halten wollte. Was mochte uns dort erwarten? Fassen wir uns kurz: keine Ahnung, was uns diese Ausstellung sagen wollte. Von Zigaretten, Alkohol und Drogen über Phalluskulte, Pornografie, Fürst Sacher-Masoch und schließlich Prostitution, Doping und Bungee-Jumping kam alles vor, aber der Zusammenhang bzw. die Aussage blieb ein Rätsel. Es war keine Kunst, wollte auch keine Propaganda gegen das wilde Leben sein, aber was war es? Andere Besuchergruppen waren ähnlich ratlos.
Zum Glück brauchte es nur noch ein Kaltgetränk im Museumscafé, und der blaue Himmel ließ sich dann doch noch mal blicken. Auf zur Kleinseite! Wir wählten den Hintereingang über Letna, wo auf dem Platz der früheren monumentalen Stalin-Skulptur (1962 schon abgerissen) heute ein überdimensionales Metronom schwingt. Tempus fugit, Jossip Wissarionowitsch! Ein gemütlicher Spaziergang durch Belvedere und zugehörige Gartenanlage führt uns von hinten auf die Burg, Regierungssitz und nächster touristischer Kulminationspunkt. Seit meinem letzten Aufenthalt kann man nichts von den Ensemblen des Hradschins mehr kostenlos besichtigen, nicht mal Veitsdom oder Goldene Gasse (!), das Kombi-Ticket kostet über 10 Euro – im Grunde nicht zuviel, von nix kommt ja auch nix, aber wir begnügten uns diesmal mit den Außenseiten.
Statt den Segways zur Karlsbrücke runter zu folgen, nahmen wir einen kleinen Schlenker zu einem Gebäude, das man von vorne kaum kennt, von hinten hat es sich umso besser in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt. Wer weiß, was ich meine?
Vorbei an einigen „Orginal-böhmischen Glasläden“ auf der Touri-Meile erreichten wir schließlich doch die Karlsbrücke, wo sich der Fußgängerverkehr aber einigermaßen entspannte. Die Massen waren wohl noch alle auf der Burg oben … Apropos böhmisches Glas … diese Massen an geschliffenem Kitsch und aufgeklebtem Hochemail sind entweder nicht böhmisch, kein Glas oder zumindest industriell gefertigt. Lustig fände ich es ja, wenn die vielen chinesischen Touristen, die das „Original böhmische“ Glas kaufen, es in Wirklichkeit bloß zurück nach Hause bringen würden, wo es herstammt …
Unsere Füße schafften es dann grade noch, am Ende der Brücke bei König Karl links abzubiegen und zur nächsten Straßenbahnhaltestelle der Linie 17 zu torkeln. Die brachte uns dann pünktlich zu unserer Anlegestelle, wo das Bötchen schon auf uns zu kam und uns – fast privat – zu unserer Insel und Pösslchen zurück brachte, der im Abendlicht vor sich hin glänzte.
Morgen geht es raus aus der Stadt nach Böhmen